Kollaboratives Arbeiten im Distanzunterricht
Eine Praxisreflexion
Dies ist ein Gastbeitrag von @herr_meier_macht_geschichte, Lehrer für die Fächer Geschichte und evangelische Religion an einer Gesamtschule in NRW. Mehr Einblicke in seinen Unterrichtsalltag, Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zum digitalen Lehren und Lernen gibt es auf seinem Instgram-Profil sowie seinem Blog! Viel Spaß!
Während der Corona-Zeiten hat das Homeschooling und der damit verbundene digitale Unterricht Hochkonjunktur – darüber freue ich mich und begrüße sehr, dass sich immer mehr getraut wird und wir sehen können, dass Unterricht auch anders ablaufen kann und vielleicht sogar muss.
Ein Stichwort, was nun wieder vermehrt fällt, ist das kollaborative Arbeiten bzw. kollaborative Lernen. Es wimmelt im Internet von Tools und Möglichkeiten kollaborative Lernangebote zu erstellen und mit den Schülerinnen und Schülern durchzuführen. Ausgehend vom Geschichtsunterricht möchte ich in diesem Artikel darstellen, was kollaboratives Arbeiten bedeutet, welche Fallstricke es im Homeschooling bereit hält und was man aus meinen Erfahrungen lernen kann.
Was bedeutet kollaboratives Lernen überhaupt?
Beim kollaborativen Lernen steht der Lernprozess als solcher im Vordergrund. Es geht – vereinfacht gesagt – darum, in einer Gruppe ein Problem zu lösen. Die Problemlösung wird dann weniger durch strukturierte Arbeitsaufträge vorgegeben, sondern es sollen sich vielmehr kommunikative Prozesse unter den SuS entwickeln, an deren Ende das gemeinsam erstellte Lernprodukt steht und alle den gleichen Wissensstand aufweisen können. Somit ist jede*r für den Prozess und das Ergebnis in der gleichen Weise mitverantwortlich, auch weil durch digitale Medien das simultane Arbeiten an einem Endprodukt auf eine neue Weise möglich gemacht wird. Ebenfalls gehört dazu, „die jeweilige persönliche Verantwortung für das Gruppenziel zu erkennen und zu übernehmen, sowie ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass gegenseitige Unterstützung, Erklärungen, Bereitschaft zur Diskussion und Kompromissfähigkeit dem gemeinsamen Lernprozess dienen.“ (Nachweis: hier, abgerufen am 05.06.2020)
Kollaboration und Geschichtsdidaktik
Im engeren – hier geschichtsdidaktischen – Sinne ist dem kollaborativen Lernen immanent, dass die Schülerinnen und Schüler den Konstruktionscharakter von Geschichte verstehen und selbst historische Narrative anfertigen und über den Entstehungsprozess reflektieren können [vgl. Pallaske 2016, 305]. Denn gerade das Schreiben und Dekonstruieren von Geschichte in einem kollaborativen Lernprozess führt den Lernenden diese grundlegenden Ziele von Geschichtsunterricht sehr eindrücklich und nachhaltig vor Augen. So verstanden lässt sich das Konzept des kollaborativen Lernens selbstredend gut in einen problemorientierten Geschichtsunterricht integrieren.
Was sollten die Lernenden konkret machen?
In Kombination mit einem Padlet und gut ausdifferenzierten Arbeitsaufträgen sollten die Schülerinnen und Schüler kollaborativ Teilprobleme/-Teilstrukturen des Investiturstreits bzw. des Gangs nach Canossa (verwendetes Video) erarbeiten. Methodisch habe ich mich an der Methode der Konfliktanalyse angelehnt.
Die SuS erhielten von mir eine Einführung in Form eines kurzen Videos. Hier ging es zum einen darum, dass ich ihnen nochmals die Funktionsweise des Padlets erläuterte und den Arbeitsauftrag erklärte. Der Austausch solle in einem kollaborativen Office-Dokument auf unserem Schulserver stattfinden – aber sie durften sich auch über andere Kommunikationskanäle miteinander austauschen. Am Ende des Arbeitsprozesses sollte also in dem Padlet zu einzelnen Aspekten des Gangs nach Canossa Ergebnisse stehen, mit deren Hilfe die Schülerinnen und Schüler ihre Sachkenntnis zu diesem historischen Ereignis vertiefen und die Problemfrage, wer denn nun die Oberhand gewonnen hat: Kaiser oder Papst? beurteilen können.
Das hat so aber nicht funktioniert – warum nicht?
Wo lag das Problem?
Mit einem Blick auf die Arbeitsergebnisse lässt sich sagen, dass der Erkenntniserwerb nicht das Problem gewesen ist. Die SuS haben in ihren selbstgewählten Gruppen durchaus Arbeitsergebnisse produziert, die inhaltlich gut waren. Diese sind aber eindeutig nicht in einem kollaborativen Prozess entstanden, sondern waren letztlich „nur“ Ergebnisse einer umfangreicheren Schulbucharbeit unter dem Etikett einer Gruppenarbeit:
Die SuS haben offensichtlich nicht diskursiv ein Ergebnis gemeinsam bearbeitet, sondern einfach nur Arbeitsaufträge abgearbeitet. Es sind also keine kollaborativen Office-Dokumente entstanden, scheinbar keine fachlichen Diskurse über die Problemlösung geführt worden, sondern abgearbeitete Arbeitsergebnisse mit Hinweis auf die Gruppenmitglieder eingereicht worden. Somit hätte ich mir das didaktische Drumherum sparen können: Das Padlet hat scheinbar nicht bei der Strukturierung geholfen, die Möglichkeit gemeinsam und v.a. gleichzeitig an einem Ergebnis in einer Datei zu arbeiten scheint für die SuS keinen Vorteil zu bringen.
Den Lernenden war vielleicht auch nicht transparent genug, was erwartet wurde: Eine gemeinsam (=kooperativ und kollaborativ) erstellte – Achtung Dialektik – digitale Wandzeitung. Auch waren meine Arbeitsaufträge vielleicht zu detailliert, sodass sie dazu verleiteten, sie einfach nur abzuarbeiten. Das Problem lag aus meiner Sicht also nicht auf der fachlichen Ebene. Sondern eben darauf, dass die Art des Arbeitens an sehr viele Voraussetzungen geknüpft ist, die es vorher zu bedenken gilt.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?
Um kollaborativ arbeiten zu können, müssen aus meiner Sicht und Erfahrung verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Wie ich oben bereits erwähnte, lagen die Probleme weniger auf der narrativen Kompetenz der SuS, sondern eher auf der mediendidaktischen Seite. Folgende Ebenen halte ich für sinnvoll zu unterscheiden:
1) Die persönlichen Voraussetzungen
Die SuS müssen über ein Mindestmaß an Selbstorganisation verfügen und es gewohnt sein, selbstständig arbeiten zu können. Insbesondere bei dieser dezentralen Aufgabe ist es für das Gelingen des Gruppenprozesses notwendig, dass sich jede*r einzelne an die z.T. selbstgesetzte Fristen halten kann und seinen persönlichen Workflow diesen anpassen kann, dabei aber nicht die Deadline aus dem Auge verliert.
Auf der eher methodisch-technischen Ebene müssen die Lernenden natürlich über Kompetenzen verfügen, mit den technischen Gegebenheiten umzugehen: Wir lade ich was hoch, wie funktioniert die gemeinsame Arbeit in deinem Office-Dokument aber auch wie komme ich an zusätzliche Informationen, wie bereite ich sie auf usw. (also das breite Spektrum der Medienkompetenz, vgl. Medienkompetenzrahmen NRW (abgerufen am 08.06.2020).
Ulf Kerber fasst diese Aspekte treffend unter „Fähigkeiten“ (technisch-instrumentell und arbeits-koordinatorisch), „Wissen“ (u.a. medienfunktional) und „Ko-Konstruktion“ (u.a. Verbindungsprozesse) zusammen [vgl. Kerber, Historische Medienbildung, 2016, 61]. Hier muss also vorher schon viel im Unterricht geschehen sein, ansonsten fällt es den SuS bereits auf dieser Ebene schwer, methodisch sinnvoll und v.a. zielführend zu arbeiten.
2) Die technischen Voraussetzungen
Da die Lernenden von Zuhause aus arbeiten und keine schulischen Ressourcen zur Verfügung haben, müssen sie über geeignete Endgeräte und eine belastbare Internetleitung verfügen. Mit einem Smartphone kann man sicherlich arbeiten, aber wenn es darum geht, größere Datenmengen herunterzuladen und zu bearbeiten, man aber keinen DSL-Anschluss hat, wird es mit dem Datenvolumen irgendwann eng. Auch ist es sehr mühselig auf einem Smartphone z.B. längere Texte zu schreiben. Natürlich gilt dieses Problem in diesen Zeiten nicht nur für das kollaborative Lernen, sondern für das Homeschooling insgesamt.
3) Die gruppendynamischen Voraussetzungen
Wie bei jeglicher Form des kooperativen Lernens stehen und fallen Lernprozesse mit der Gruppenkonstellation. Aber insbesondere in einem Setting, in dem die SuS nicht einfach nur einige Arbeitsaufträge abarbeiten, sondern kommunikativ historische Fragestellungen bearbeiten sollen, ist es sehr davon abhängig, wie gut oder schlecht Lernenden miteinander arbeiten können. Auch ist es im Rahmen des kollaborativen Lernens entscheidend, ob die SuS „Differenz nicht als Problem, sondern als Chance“ [Baumann-Gibbon/Menzel 2017, S. 170] begreifen. Heißt: Auch der Blick darauf, dass unterschiedliche Herangehensweisen, verschiedene Problemlösungsansätze und differente Wissensstände zu dem gesteckten Ziel führen können, wird den SuS abverlangt.
4) Die didaktischen Voraussetzungen
Hierunter verstehe ich die didaktisch-methodisch reflektierten Voraussetzungen, die ein Schüler oder eine Schülerin vorfindet. Das ist also eine Ebene, die zuvor durch die Lehrkraft vorbereitet wird. Die Lehrkraft muss sich auf der einen Seite natürlich fragen, ob die Methode mit dem verlangten Kompetenzerwerb zusammenpasst. Aber auch, ob sich die Fragestellungen dazu eigenen kommunikative Lernprozesse zu initiieren und nicht zuletzt: Erfüllen meine SuS überhaupt alle Voraussetzungen, um kollaborativ lernen zu können?
Eben diese Frage erscheint mir rückblickend als die wichtigste – es war aber auch gleichzeitig die, die ich als nachrangigste Frage angesehen habe. Ich denke nämlich, dass insbesondere die persönlichen Voraussetzungen zentral sind. Denn insbesondere die Selbstorganisation muss ausgeprägt sein, um mit einem solch dezentralen und kollaborativen Arbeitsprozess zurecht zu kommen.
… und nun?
Ernsthaftes kollaboratives Lernen wird nicht sui generis durch das Erstellen eines Padlets, eines Etherpads o.ä. initiiert. Um solche Lernprozesse insbesondere für den Geschichtsunterricht initiieren zu können, bedarf es einer zuvor umfangreich durchdachten und reflektierten Problemaufgabe und vor allem viel Übung, Übung, Übung! Deshalb ist es notwendig, dass im (Geschichts-)Unterricht solche Prozesse in einzelnen Unterrichtsabschnitten eingeplant und nach und nach eingeübt werden. Außerdem zeigt sich, dass Medienbildung eben keine Aufgabe eines Faches „Medien“ sein kann, sondern dass es eine Querschnittsaufgabe sein muss, die eben auch die spezifischen Besonderheiten eines jeden Faches berücksichtigt und insgesamt im Unterricht der Schülerinnen und Schülern ihren Platz findet, wenn man dem ehernen Ziel „4K“ nur ansatzweise gerecht werden möchte.
Wie kann kollaboratives Lernen gelingen?
Kurz gesagt: Indem alle vier Voraussetzungen erfüllt werden. Das lässt sich aus meiner Sicht auf vier Praxis-Tipps herunterbrechen:
1. Die Fähigkeiten der Lernenden
• Sind meine SuS mit den Medien, die sie nutzen sollen, vertraut?
• Brauchen Sie Unterstützung beim Zeitmanagement?
• Kennen sie bereits Formen von Kollaboration (etwa durch Übungen im Unterricht)
2. Die Technik
• Haben alle meine SuS ein passendes Endgerät, um an der Kommunikation zu partizipieren?
• Wie groß sind die Datenmengen, die evtl. heruntergeladen werden müssen (Videos? Bildquellen? Andere benötigte Materialien?
• Funktionieren meine bereitgestellten Medien?
3. Die Gruppendynamik
• Wie werden die SuS eingeteilt: Selbstständig? Zufällig? Durch mich?
• Wie gehen die SuS voraussichtlich mit Differenzen um? Brauchen sie hier Hilfestellung (moderierender Eingriff durch mich?)
4. Das didaktische Arrangement
• Bietet meine Problemstellung Möglichkeiten der Kollaboration?
• Passen Medium und erwartetes Ergebnis zusammen?
• Ist den SuS Aufgabe, Prozess und Ergebnis transparent genug gemacht worden?
• Erfüllen mein Arrangement und die SuS alle Voraussetzungen?
Mit Hilfe dieser vier Kategorien und ihren Leitfragen kann aus meiner Sicht echte Kollaboration gelingen – sie garantieren es natürlich nicht.
Nachtrag: In diesem Beitrag findest du ein Praxisbeispiel dazu, wie mit den Schülerinnen und Schülern kollaboratives Arbeiten konkret geübt wurde.
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Alle zitierten Artikel stammen aus: Bernsen/Kerber (Hrsg.), Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Bonn 2017 [BPB Lizenzausgabe, abgerufen am 09.06.2020]